Gartenzauber am Salzhaff: Zwischen duftenden Fenchel und leuchtenden Sonnenblumen – meine Künstlerresidenz im Kunsthaus Stove
Ringbeete mit mannshoch gewachsenem duftendem Fenchel und das Konzert einer Kolonie Stare in den großen Weiden am Haus – das ist Stove, der Ort, an dem ich meine Künstlerresidenz verbringe. Hier herrscht ein anderer Rhythmus als im fernen und geschäftigen Berlin. In Stove ist die Geschwindigkeit langsam, die Stille angenehm und der Takt ungewohnt. Selbst das Meer ist ruhig, wie ich es noch nie erlebt habe, als wolle es sagen: „Mach langsam.“ Ich bin eingeladen, herunterzufahren und ich tue mich schwer, unerwartet schwer. Ida sagt, die Schönheit hier will erst erobert werden. Der flüchtige Blick übersieht schnell die eigenwillige Schönheit dieser Landschaft am Salzhaff.
Also übe ich mich in einer langsameren Geh-Art, in diesem wiegenden Rhythmus: ich mache Ausflüge zum Salzhaff, fahre durch kleine Ortschaften, laufe die Dorfstraßen entlang, über Feldwege und folge den sich schlängelnden Fahrradwegen. Doch vor allem sitze ich im Garten oder liege auf der Wiese. Ich höre den Staren zu, die still werden, wenn ein Greifvogel sich nähert, höre das Gurren der Tauben. Ich nasche Himbeeren und Mirabellen aus Idas Garten, beobachte die Hummeln und reibe wieder und wieder kleine Fenchelsamen zwischen den Fingerspitzen. Der Duft erdet mich.
Ich beobachte die Schatten der Pflanzen um mich herum und folge ihrem Tanz in der leichten Brise. Zunächst zeichne ich die Skulpturen im Garten – farbige Holzscheiben kunstvoll übereinandergestapelt, sehen sie aus, als wären sie in diesem Garten gewachsen sowie die sie umgebenden Pflanzen. Zwei Scheibenskulpturen habe ich direkt vor meinem Atelierfenster.
Die Schatten der Fenchelpflanze faszinieren mich. Ich schneide ein paar Stiele ab und stelle sie im Atelier in eine Wasserflasche auf meinen Schreibtisch. Ihren Schattenwurf zeichne ich erst und male ihn dann in einer anderen Farbe ein zweites Mal auf dem gleichen Bogen Papier. Der Strauß Sonnenblumen, der mich bei meiner Ankunft begrüßte, erfreute schon den Tangokurs zwei Tage zuvor. Jetzt lassen die Blumen langsam ihre Köpfe hängen, sie scheinen erschöpft vom Strahlen. „Lass sie noch ein bisschen hier“, bitte ich Ida als sie den Strauß entsorgen will. So bleiben die kleinen Sonnen mit hängenden Köpfen, wo sie sind: auf dem dunklen Holzofen, der im Winter das Atelier heizt. Hier darf alles sein: Frisches und Vergehendes.
Mich reizen die hängenden Köpfe, das langsame Vertrocknen, die abfallenden Blütenblätter. Ich zeichne weiter. An die leeren Wände des Ateliers hänge ich Zeichnungen von Wurzeln und Blätter mit Linien, die den Umrissen von Pflanzen folgen. Meine Fingerkuppen sind schwarz von der Reißkohle und wollen Farbe!
Also male ich. Die Köpfe der Sonnenblumen tunke ich in Farbe. Auch den Fenchel nutze ich, doch er zerfällt so schnell. Gelbgrün, Elfenbeinweiß und Tannengrün springen mir von meiner Farbpalette sofort ins Auge. Dazu das eindrucksvolle Blassgrün und ein helles Rosa. Ich tauche ein: in die zarten Fenchelblüten und ihre Samen und in die kraftvollen Halme und Blüten der Sonnenblumen. Rosa, Blassgrün und Lila für die Blütenblätter der Sonnenblume.
Auf dem Friedhof der Kirche in Dreveskirchen finden sich weitere Sonnenblumen, höher gewachsen als ich, mit vielen Blättern und großen schweren Blüten. Die Ringbeete mit Fenchel im Garten des Kunsthauses sind ein duftendes Dickicht. Ich stelle mir vor, wie ich mich als kleines Kind hier verstecken würde. Es ist friedlich hier im erdig duftenden Fencheldickicht.
Am Nachmittag eine Tasse Tee im Garten an einem der klappbaren Holztische, mit denen ich durch den Garten ziehe. Mein Blick wandert. Hier nehme ich mir Zeit zum stillen Schauen. Hier lasse ich mich ein und werde leiser.
Es zieht mich ins Atelier zurück. Eine große Tischplatte am dreiteiligen Fenster, zwei Staffeleien mit einer großen MDF-Platte hinter mir. An der Wand dahinter hängen aufgereiht meine Blätter: Skizzen, Studien und Spielereien. Tag für Tag wächst die Anzahl der Blätter – es ist meine persönliche Galerie, ein sichtbares Zeichen meines Prozesses, meines Suchens nach meiner Bildsprache hier am Salzhaff.
Nach und nach erweitere ich meinen Radius, laufe am Salzhaff entlang, lasse mich abends von Mücken zerstechen und wate durch das knietiefe Wasser der Ostsee. Die Temperaturen von Meer und Luft sind angenehm. Steine in allen Größen, Kormorane, Möwen und Schwäne, am Horizont zwei Segelboote und ein rosafarbener Abendhimmel. Auf dem Rückweg geht es an einem Sonnenblumenfeld vorbei, die Blüten sind schon ganz schwer und haben ihre Blütenblätter abgelegt. Sie sind reif für die Ernte. Der Saft der fleischigen Sukkulentenblätter lindert das Jucken meiner Mückenstiche.
Im Atelier male ich weiter an den Pflanzen. Ich finde heraus, dass van Gogh Teddybären-Sonnenblumen malte und dass es rosafarbene und weißblühende Sorten gibt. „Alles darf, nichts muss“, kommt mir in den Sinn und ich genieße die konzentrierten Stunden im Atelier. Ich erlaube mir, akribisch Formen mit zarten Strichen meiner Aquarellstifte auszumalen. Jetzt habe ich Blütenblätter in Hellrosa, Dunkelrosa, Hellblau, Blassgrün, hellem Umbra, Ocker und sogar zartem Lila.
Einiges wird später übermalt oder verwischt. Es ist ein Kommen und Gehen wie am Meeresstrand: das Wasser kommt, das Wasser geht. Einige Wege führen in Sackgassen, bei anderen hilft Abstand, wieder anderen muss ich einfach noch ein bisschen länger folgen. Hier im Kunsthaus Stove kann ich das tun. Hier bin ich ungestört, ohne Verpflichtungen. An manchen Tagen gelingt es mir schneller und leichter, an andern schießt mein innerer Kritiker quer: „Das ist doch langweilig!“.
Doch „langweilig“ ist gut!
Eine „lange Weile“ haben, um an etwas zu arbeiten. Eine lange Weile haben, um etwas scheinbar Unspektakuläres zu betrachten. Eine lange Weile haben, um etwas hin und her zu bewegen – das ist das Besondere hier!
Was an Arbeiten entsteht, ist zweitrangig. Mit der langen Weile kommen Ideen auf, die es sonst im Krach und im schnellen Rhythmus der Großstadt, in der ich lebe und arbeite, nicht geschafft hätten, an die Oberfläche zu kommen. Es sind Ideen, die leiser sind. Ideen, die mehr mit meinem Inneren zu tun haben. Es sind Wegweiser in neue, ungeahnte Richtungen.
Jetzt bin ich durchlässig, aufmerksamer, stiller. Angekommen.
Das ist schön.
Und traurig.
Mein letzter Tag im lehmverputzen Atelier, umringt vom künstlerischen Suchen und Finden der vergangenen Tage. Morgen ruft mein Alltag wieder mit lautem Straßenverkehr, mit lärmenden Menschenmassen, mit wichtigen Ausstellungseröffnungen und notwendigen Arbeiten an einem Ausstellungskatalog. Ich seufze. Stehe auf und gehe zu den drei Ringbeeten voller Fenchel – die Nase füllen mit dem erdigen Duft, den sanften Wind spüren, weitere Mückenstiche einfangen und den Staren zuhören….
www.sandrastops.de